Als ich die Veranda meines Bed & Breakfast betrete, starren mich zwei glasige Augenpaare vom Boden an. Vor mir liegen zwei tote Fische, die sich offenbar zuvor in jenem Eimer befanden, den der heftige Wind nun von einer Seite zur anderen fegt.

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Ich befinde mich 300 Kilometer nördlich des Polarkreises, den ich am Tag zuvor mit der Fähre überquert hatte. In Nyksund, einem ehemaligen Fischerdorf am Atlantik, das sich im Verlauf der letzten Jahrzehnte zu einem arktischen Lost Place entwickelte, einem Geisterfischerdorf, dessen Bewohner die Hoffnung, hier überleben zu können, lange aufgegeben hatten.

Bis einige Auswanderer Gefallen an dieser extremen und extrem abgeschiedenen Lage fanden und blieben und das Dorf seither nach und nach wieder aufbauen. Heute leben in Nyksund etwa 30 Menschen, für eine Nacht war ich eine von ihnen.

Roadtrip zum Fischerdorf Nyksund in Norwegen

Das Navi lotste mich auf den verrücktesten Wegen her. So dachte ich. Nach einer langen Fahrt auf einer der landschaftlich besonders eindrucksvollen norwegischen Landschaftsrouten, fuhr ich auf einer Schotterpiste, die sich allerdings als nicht minder beeindruckend herausstellen sollte.

Den kleinen Ort Myre hatte ich hinter mir gelassen. Von hier aus schien der einzige Weg zum Ziel für den Tag über diese kleine Straße zu führen. Sie schlängelte sich dem Verlauf der Atlantikküste folgend an Berghängen und Klippen vorbei, Regen und Nebel verliehen diesem Ort eine gewisse Portion Magie. Solange bis mich Schlaglöcher von der Tiefe eines klobigen Fahrradhelmes aus meinen Träumereien erwachen ließen. Noch am Abend sollte ich lernen, dass diese schmale Schotterpiste die einzige Verbindungsstraße nach Nyksund ist, einem früher einmal florierenden Fischerdorf direkt zu Füßen des wilden Atlantiks.

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Hier oben in der Arktis fühlte es sich an, als wäre ich am Ende der Welt. Geografisch gesehen. Nicht psychisch. Ich versuchte soviel Eindrücke aufzusaugen und Momente festzuhalten wie möglich. Sobald ich die Autotür öffnete, riss der Wind sie mir aus der Hand. Der Regen peitschte mir ins Gesicht, die Temperatur lag gefühlt knapp über dem Gefrierpunkt, auch wenn das Thermometer im Auto 9 Grad anzeigte. Würde ich nur lange genug auf das offene Meer hinaus starren, ich würde ganz sicher Wale sehen.

Doch Wal-Safaris, die früher einmal von Sto aus starteten, gibt es schon lange nicht mehr. Das Unternehmen konnte sich in dieser Einsamkeit nicht mehr über Wasser halten. Nicht abmontierte Schilder am Wegesrand führen in die Irre. Das Wetter war eigentlich perfekt für einen Ort wie diesen. Ungemütlich. Wild. Grau. Ich sog den Anblick auf, ließ mir für die Fahrt deutlich mehr Zeit als die 20 Minuten, die ich für die 9 Kilometer eigentlich benötigt hätte.

Was mich am Ende dieser Straße erwarten würde, ahnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Auch hatte ich nicht ganz auf dem Schirm, wo exakt ich mich befand, ein Blick auf die Karte schaffte Klarheit: Ich WAR fast am Ende der Welt. Nyksund lang also ganz ‚am Ende‘ der kleinen Insel Langoya auf den Vesterålen nördlich des Polarkreises. Eine Sackgasse quasi.

Nyksund

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Langsam dämmerte mir, dass diese Ansammlung kleiner und bunter Häuschen, auf die ich zufuhr, offenbar mein zu Hause sein würde für die kommende Nacht. Mit gemischten Gefühlen fuhr ich weiter, bis am Ende dieser Straße eine Brücke auftauchte, die in einer langen Kurve auf Nyksund zulief. Ich ignorierte das spaßeshalber angebrachte ‚Durchfahrt verboten‘ Schild mitsamt kopulierender Elche und fuhr in das Örtchen rein, in dem Parkplätze rar sind.

Erst jetzt fiel mir auf, dass einige Häuser leer standen, gar verfallen wirkten. Je länger ich mich umsah, desto stärker wurde das Gefühl, in einer Art Geisterdorf gelandet zu sein! Das Dorf Doel in Belgien kannte ich natürlich, aber ein arktisches Geisterfischerdorf im Norden Norwegens? Davon hatte ich noch nichts gehört.

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Statt einer exakten Adresse hatte ich nur den Namen meines Bed & Breakfast, aber so groß war das Dorf nicht, so stand ich wenige Meter später bereits direkt davor. Den Wagen stellte ich am alten Hafenbecken ab und ging schnurstracks in das Ekspedisjonen, das sich als Fischrestaurant entpuppte, nicht als Unterkunft.

„Das Bed & Breakfast, das du suchst, gehört zu uns!“, erklärte mir Ingo, der Kellner, der vor vielen Jahren aus Deutschland hier herkam. „Es befindet sich ein Stück die Straße rauf, so 200 Meter. Möchtest du etwas essen?“

Da sagte ich nicht nein. Ich war froh, angekommen zu sein und bestellte das Menü, das er mir empfahl: eine Tapas-Fisch-Variation mit geräuchertem Wal (wenn ich schon einmal hier bin …) und Stockfisch sowie einen frischen Fisch als Hauptgericht. Dazu ein eiskaltes Bier. Als Nachspeise gab es ein Käseeis. Langer Tag auf der Straße ohne Frühstück und Mittagessen, vielleicht kann ich es damit rechtfertigen.

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Das Restaurant war gut gefüllt, allerdings waren die meisten Gäste bereits fertig mit dem Essen. Ich fühlte mich mit meiner Kamera ein wenig wie der Ober-Touri aus der Großstadt. Mittags und Nachmittags sei hier das meiste los, erklärte Ingo mir. Denn die Gäste von außerhalb des Dorfes müssten vor 20 Uhr 30 das Lokal verlassen haben, da dann die Zufahrtsstraße zum Ort schließt.

„Die Zufahrtsstraße zum Ort schließt? Du meinst die Schotterpiste auf der ich hergefahren bin? Die SCHLIESST?“

„Ja, jede Nacht von 20 Uhr 30 bis zum nächsten Morgen ist sie gesperrt, weil dann wichtige Bauarbeiten vorgenommen werden um sie instand zu halten. Felsbrocken werden weggesprengt und weggeräumt. Es gibt noch ein Zeitfenster zwischen 22 Uhr 30 und 23 Uhr das man nutzen kann um ins Dorf rein oder aus dem Dorf herauszukommen.“

Diese Information musste ich erstmal sacken lassen.

„Das heißt, alle Menschen, die hier wohnen (UND ICH AUCH), können spätabends nicht mal einfach wegfahren oder Besuch bekommen?  Schränkt das nicht extrem ein?“

„Nein. Die Leute wissen das. Wer länger als halb neun bei uns im Lokal bleiben möchte, nutzt das zweite Zeitfenster.“

Das erklärte auch, warum ich durch ein Gatter fahren musste, als ich auf die Schotterpiste einbog. Es wird geschlossen, wenn die nächtlichen Bauarbeiten beginnen.

Ingo Hammerich wohnte seit vielen Jahren in Nyksund. Ich wollte von ihm wissen, was es mit Nyksund auf sich hatte und erfuhr, dass das Dorf tatsächlich einmal so etwas wie ein Geisterdorf war. Im Laufe der Jahre war es mehrere Male aufgegeben worden von der Regierung und den Einwohnern, da die Fischer keine Chance mehr sahen, hier ihren Lebensunterhalt zu verdienen.

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Blick auf das Bed & Breakfast

Nyksund – vom erfolgreichen Fischerdorf zum Geisterdorf

Um die Jahrhundertwende war Nyksund allerdings eines der größten Fischerdörfer auf den Vesterålen, mit angeblich legendären Fischgründen. Mehr darüber könnt ihr auch bei Bruder Leichtfuß nachlesen, der im letzten Jahr in Nyksund war. 127 Menschen lebten im Jahr 1900 permanent hier. In der Winterfischsaison stieg die Anzahl auf 750 an.

Als die Fischerboote Motoren bekamen und immer größer wurden, war das Hafenbecken schnell zu klein für die Schiffe. Immer mehr Fischerfamilien zogen fort, 1973 schloss die Schule, zwei Jahre später waren die letzten Einwohner verschwunden. Die Instandhaltung des Dorfes war der Regierung zu teuer und so wurden die letzten Bewohner nach Myre umgesiedelt.

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Nyksund verfiel. Wurde zwischendurch für ein deutsches Jugendprojekt genutzt und aufgebaut. Verfiel danach aber wieder. Bis einige Auswanderer Häuser übernahmen und nach und nach instand setzten. Dazu gehören auch Mona und Ringo aus Dresden, die das Fischrestaurant im Ort betreiben sowie das Bed & Breakfast, in dem ich gewohnt habe.

Sie wohnen hier mittlerweile mit ihren zwei Kindern, die im 15 Minuten entfernten Myrre einen Platz in Schule und Kindergarten haben. Und auch sonst wirkt das Treiben geschäftig, wir befinden uns auch in der sehr kurzen Hochsaison, die gerade einmal von Juni bis Anfang September andauert.

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Ich habe bei Mona wunderbar geschlafen und sie auch darüber ausgequetscht, wie es ist, mit Kindern hier oben in der Arktis zu wohnen. Während wir uns unterhielten, düsten ihre Jungs mit Laufrad und Fahrrad am Hafenbecken entlang. Ich konnte den Blick kaum abwenden, für sie und die Kinder ist das der Alltag und die beiden hatten großen Spaß auf alten Schiffen herumzuklettern oder die Felsen zu besteigen. „Stadtverkehr in Dresden wäre für die beiden deutlich gefährlicher“, sagt Mona.

Monas Bed & Breakfast Ekspedisjonen beschwerte mir eine sehr gemütliche Nacht mit spektakulärem Blick aufs Meer. Und auch wer mit Kindern reist, ist bei ihr sehr gut aufgehoben und kann sich zusätzlich viele Tipps zum Thema Reisen mit Kindern rund um Nyksund und Nordnorwegen abholen.

Lest mehr über meinen Roadtrip durch Norwegen:

Das wird mein spannendster Roadtrip – eine Woche mit dem Auto durch den Norden Norwegens

Roadtrip durch Norwegen – von Trondheim nach Sandnessjoen

Roadtrip durch Norwegen  – ein Update aus der Arktis

Meine Reise durch Norwegen wurde unterstützt von Visit Norway, Innovation Norway, Visit Vesterålen und Mercedes-Benz.

9 Gedanke zu “Die Magie des einstigen Geisterfischerdorfs Nyksund in der Arktis – Roadtrip durch Norwegen”
  1. Bei gerade einmal 30 Einwohnern, fragt ich mich gerade: Wie hast du von diesem kleinen, idyllischen Örtchen erfahren?
    Hört sich sehr spannen an. Man bekommt ja schon selbst Lust so ein Trip zu starten 🙂

    Gruß
    Sergej

    1. Hallo Sergej,
      ohje, entschuldige, ich sehe deinen Kommentar erst jetzt. 🙁 Nyksund ist für diejenigen, die sich ein wenig mit Norwegen auskennen gar nicht sooo unbekannt. Zum einen google ich immer viel vor einer Reise, zum andere habe ich hier mit den Tourismusprofis aus Norwegen zusammen gearbeitet, die mir natürlich allerbeste Reiseinfos und Tipps geben können um im Blog darüber zu berichten, wenn es denn passt.
      Liebe Grüße,
      Heike

  2. Hallo,
    ganz schön dramatisch alles geschildert. Ich liebe Norwegen und habe schon mehrere Monate mit Zelt und in letzter Zeit mit Wohnmobil in Norwegen verbracht aber als so dramatisch habe ich es nie empfunden. Mit unserem Wohnmobil, ein ganz normaler Frontgetriebener Teilintegrierter haben wir bisher auch alle Straßen ohne Probleme geschafft. Die Walsafari in Stø habe ich 2012 mit gemacht und jetzt im Juni 2015 ist fast der ganze Monat schon ausgebucht, wieso gibt es denn die Walsafarie in Stø nicht mehr? Im Sommer ist in Stø auf dem Wohnmobilstellplatz, ganz am Ende der Straße, richtig viel los, man fndet bei gutem Wetter kaum einen freien Platz.
    Gruß
    Udo Jansen

    1. Hallo Udo,

      danke für dein Feedback. Ich werde das mit Stø natürlich ändern wenn du recht hast. Als ich 2014 da war hieß es, es gibt die Walsafari nicht mehr von dort aus.

      lg
      Heike

    2. Vor genau 19 Jahren war ich mit Mann und Tochter in Nyksund und es war von allen Reisen, die wir viele Jahre in Skandinavien, vorwiegend in Norwegen gemacht haben, fast das einschneidenste Erlebnis. Am Abend war Nyksund eine Geisterstatdt, als wir ankamen war kein Mensch zu sehen. Wir sparten damals auch oft den Zeltaufbau und schliefen im Freien oder auf Bänken u.ä.. Aber in dieser Geisterstdt überfiel uns Beklämmung und so zelteten wir vor der Stadt auf einem kleinen Stück Wiese neben der Straße. Am nächsten Morgen noch mal in die Stadt und da war sie voller Leben und es herrschte Goldgräberstimmung. Im Reisetagebuch von damals finde ich folgenden Eintrag:“…Rüdiger Luckow kam jahrelang als Sozialarbeiter mit gestrauchelten Jugendlichen aus Deutschland nach Nyksund wohnt nun (1997) 6 Jahre in Norwegen, 3 davon in Nyksund. Er Schnitzt Wale. …..Intusiasten leben in Ns und bauen es mit eigenen Mitteln wieder auf. Es gibt 1 neues Haus, die Kirche wurde an 2 Seiten gestrichen, 6 Familien leben auch im Winter hier. Alles Geld, was Touristen bringen, bleibt in Ns. Staatliche Fördermittel gibt es nicht.“ Wir lernten noch Michel und Bettina kennen und auch sie blieben in nun nur noch meiner Erinnerungen verankert. Die Walsafari gemeinsam mit jungen Wissenschaftlern, die die Wale katalogisierten war ein ebenfalls so bleibendes Erlebnis. Der Ort, der am Abend uns Angst gemacht hatte, war am kommenden Tag so voller Leben und Zuversicht, das uns das Herz aufging. Als wir von der Walsafari zurückkamen, war es wie in einem alten UFA-Schinken: alle Bewohner kamen an den Kai und fragten interessiert, ob wir Wale gesehen hätten. Wir hatten und ein großer Pottwal war lange neben unserem Schiffchen geschwommen. Immer wieder in den Jahren danach wollten wir noch einmal hin um zu sehen, was geworden ist, aber das Schicksal stellte andere Weichen. Eine Freundin war diesen Sommer dort und ich bin richtig glücklich, die doch erheblichen Fortschritte an Hand von Fotos zu sehen und ihre Berichte zu hören.
      Mein Sehnsuchtsland ist weiterhin Norwegen.

  3. Hallo Heike,
    Wal Tours schrieb mir, das 2014 tatsächlich eine kleine Pause war, bis sie Ende der Sommrsaison von einem neuen Betreiber übernommen wurden.

    Gruß
    Udo

  4. Nyksund ist nicht mehr das was mal eins war,aber wird immer bleiben,was geblieben ist,eine Geisterstadt.
    Ich lebte von 1990 – 1994 in Nyksund,lebte im Sturmhaus,betreibte eine Disco und spielte in der Band.
    War auch eine weile auch als Fussballer tätig gewessen in der Mannschaft IL Moril 🙂
    Ja die guten alten Erinnerungen =)

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