Die Sonne taucht das Geisterdorf Doel in ein weiches Licht als ich auf die einzige Zufahrtstraße des Dorfes einbiege. Schon von weitem kann ich erkennen, dass sie ganz hinten am Deich eine ziemliche Show abziehen muss. Ich gebe Gas, parke den Wagen auf dem kleinen Parkplatz unter der Mühle, greife zur Kamera und laufe auf den Deich. Viel Zeit bleibt nicht.
Was sich mir dann bietet würde ich als spektakuläre Kulisse bezeichnen. Vor mir liegt ein dem Abriss geweihtes Dorf, ich blicke auf zig leerstehende Häuser, die fast alle mit großen Holzbrettern und Verschlägen verrammelt sind. Hier und da sehe ich eingeschlagene Scheiben, eingetretene Türen. Rechts von mir ist die alte Mühle, die sich rühmen kann, die einzige Belgiens auf einem Deich zu sein. Direkt dahinter qualmen die zwei Reaktoren des Atomkraftwerks. In der untergehenden Sonne leuchtet es orange und versprüht eine ganz bizarre Industrie-Romantik.
Doel – ein Geisterdorf
‚So nah war ich bisher noch nicht an einem Reaktor‘ fährt es mir durch den Kopf. Unweigerlich stelle ich mir vor, was passieren würde, wenn… Ich blicke nach links, sehe die großen Kräne des Hafens, die weit über die Häuser hinaus ragen. Hinter mir fließt die Schelde, im ehemaligen Yachthafen liegen ein paar alte Boote im Schlamm. Es ist Freitagabend, 17:30 Uhr.
Ein Wochenende habe ich mir Zeit genommen um mehr über dieses Geisterdorf zu erfahren, vor allem aber möchte ich einige der Bewohner kennen lernen, die Doel – anders als hunderte andere – NICHT verlassen haben und weiter in den zum Abbruch verdammten Häusern wohnen. Ob mir das gelingt? Wir werden sehen. Ich benötige einen Plan. Wer die Geschichte des Dorfes Doel noch nicht kennt, sollte zuerst meinen ersten Artikel über Doel lesen.
Die Sonne ist mittlerweile untergegangen, der Wind bläst mir ordentlich ins Gesicht. In diesem Moment tauchen zwei Frauen auf, die Lebensmittel in die alte Mühle tragen, eines der Gebäude, die noch am Leben erhalten werden. Die Mühle ist heute ein Restaurant. Ich klopfe. Die Dame, die mir mit fragendem Blick die Tür öffnet, spricht leider kaum englisch, gibt mir aber zu verstehen, dass der Laden heute geschlossen bleibt. Eine Party steht an. Eine Party? Ich staune.
Es sollte nicht mein letztes Staunen bleiben. Offenbar hatte ich damit gerechnet, dass jeder im Ort Trübsal bläst statt Parties zu organisieren. Aber wer sollte das schon über eine solche Zeitspanne von mehr als 15 Jahren aushalten? Ihr Englisch sowie mein flämisch reichen für eine Verständigung einfach nicht aus, schon gar nicht um Antworten auf meine neugierigen Fragen zu bekommen. Sie rät mir, mit „Sheila“ zu sprechen, der Besitzerin der Dorfkneipe. Sie sei sicher heute abend da.
„Eine Dorfkneipe? Und die Dorfkneipe ist noch geöffnet?“
„Ja sicher!“ sagt sie und verschwindet wieder in die Mühle.
Bei meinem letzten Besuch war mir die Dorfkneipe ‚Doel 5‘ zwar aufgefallen, aber nicht im Traum kam ich auf die Idee, dass sie abends zum Leben erwacht. Auf meinen schnellen Blick sah sie vor ein paar Wochen genauso dunkel aus wie all die anderen Häuser, die leer stehen. Erst auf den zweiten Blick fällt mir jetzt auf, dass die Türen und Fenster nicht verrammelt sind.
Ich fahre am Deich entlang in Richtung Atomkraftwerk und suche das letzte Haus in der Straße. Das, das vor den Toren des AKW liegt, wie es in diesem Artikel so schön beschrieben ist. Ich erhoffe mir auch, auf Marina Apers zu treffen, die darin wohnen soll und den Widerstand des Dorfes offenbar anführt. Auf dem Weg dorthin entdecke ich ein weiteres ROA Mural, aber für Fotos ist es fast schon zu dunkel. Dann finde ich ihr Haus. Eigentlich ist es nicht zu übersehen. Es ist mit Plakaten zugehangen, auf denen Warnungen und Botschaften stehen.
„Achtung! Dieses Haus ist bewohnt!“ und „Dieser Bereich wird videoüberwacht“ steht da. Auch das Gartentor ist mit einem riesigen Schloss versperrt, eine Klingel unerreichbar ohne in die Privatsphäre einzudringen. Ich rufe erst, hupe dann und gebe schliesslich auf. Es ist fast dunkel, daher nehme ich mir vor, an einem anderen Tag wiederzukommen. Verwerfe den Plan aber im Laufe des Wochenendes. Denn im Prinzip könnt ihr in diesem Artikel alles über ihre Sicht nachlesen und bekommt einige schöne Details rund um das Leben im Dorf.
Mein nächstes Ziel: Doel 5. Die Dorfkneipe. Einmal gerade aus fahren, rechts, links, links und ich bin da. Die Straßen verlaufen im Schachbrettmuster, was eine Orientierung im Geisterdorf recht einfach macht.
Die Kneipe liegt an einem kleinen Marktplatz. Fast alle Parkplätze sind belegt, direkt vor dem Eingang, vor dem Mini, parkt ein Porsche. Wie spooky das ist in einem Geisterdorf. Zwei Leute stehen vor der Tür und rauchen. Jetzt kostet es mich doch ein wenig Überwindung, allein hinein zu gehen. Denn ich ahne, was passieren wird. Als ich die Tür öffne, blicke ich in etwa 40 Augenpaare, alle sind auf mich gerichtet. Ich ziehe schnurstracks zur Theke durch, zerre einen Hocker zurecht und bestelle ein Bier. So muss sich ein bunter Hund fühlen. Eine Rolle, die nicht meine liebste ist. Nach ein paar Minuten haben sich alle an mich gewöhnt und ich kann mich ein wenig entspannen und umsehen.
Die meisten stehen in kleinen Grüppchen, einige sitzen, eine Frau hat einen Laptop vor sich auf dem Tisch. Oha.
„Habt ihr hier Wifi?“ frage ich die junge Kellnerin.
„Klar. Warte, ich schreibe dir den Code auf.“
Damit hatte ich ausgerechnet hier nicht gerechnet. Ich komme ins Gespräch mit einem Mann, der neben mir auf dem Barhocker sitzt. Was genau er beruflich macht, konnte ich nicht verstehen. Aber ich erfuhr genug um zu wissen, dass es ein sehr harter Job sein muss und er einen Teil des Jahres in Dubai arbeitet, einen weiteren Teil irgendwo im Rest der Welt und einen kleinen Teil in Belgien. Das sei auch der Grund warum er von seiner Frau mittlerweile getrennt sei.
Während er sich verabschiedet, entbrennt ein kleiner Wettkamp darum, wer mir zuerst ein Bier ausgibt. Ein Bier ist hier wie ein Handschlag zur Begrüßung. Freundlich gemeint und willkommen heißend. Ein Typ mit weißem Hemd gewinnt. Wehren zwecklos. Mein Tischnachbar ist inzwischen etwas stiller geworden.
Wie ich später mitkriege, ist der Mann mit dem weißen Hemd der Porschefahrer, der seinen Wagen besser hätte stehen lassen sollen. Sein englisch reicht aus um mir zu erklären, dass die meisten Leute, die an diesem Freitag Abend hier in der Kneipe sind, im benachbarten Atomkraftwerk arbeiten und zum Feierabendbier hierher kommen. Ich muss unweigerlich an Homer Simpson denken.
Dann begehe ich einen Fehler, frage ihn ob er ein Hotel in der Nähe kennt. Um ein Zimmer für die Nacht hatte ich mich noch nicht gekümmert da ich in der Lage sein wollte, spontan zu handeln. Doch jetzt war es dunkel draußen und die Chance, in der Nähe des Dorfes etwas zu finden, tendierte gen Null. Während ich mich so unfreiwillig zum Gesprächsthema Nummer 1 machte, bot mir die Frau, die zuvor vor dem Laptop gesessen hatte, aus dem Nichts heraus einen Schlafplatz an.
„Du kannst in meinem Camper schlafen. Der ist sehr einfach und es wird wohl etwas kalt. Aber du kannst dort pennen.“
Ich war platt. Bedankte mich für das Angebot.
„Wohnst du hier im Dorf?“ wollte ich wissen. Hier duzen sich alle. Das hatte ich schon kapiert.
„Ja. Direkt nebenan.“
Der Camper war mir aufgefallen. Ich überlegte, wie kalt es wohl werden würde nachts, was ich dabei hatte, ob ich Strom brauchen würde und ob das überhaupt eine echte Alternative für mich war. Ich kannte Sabine, so hieß sie, erst wenige Minuten. Was soll ich sagen, so freundlich das Angebot war. Ich sehnte mich nach einer Nacht in einem warmen Hotelzimmer samt Bettdecke, Dusche und Steckdose. Letzteres nutzte ich, um mich aus dem sehr freundlichen Angebot heraus zu stehlen.
„Ah okay. Dann kannst du gern in einem Zimmer in meinem Haus pennen. Gegen eine kleine Spende. Oder willst du unbedingt viel Kohle für ein Hotel ausgeben?“
Wow. Uhm. Ich war baff. Hatte mir gerade eine wildfremde Frau ein Zimmer in ihrem Haus angeboten? Noch dazu in einem der wenigen, die hier noch bewohnt waren? Was sollte ich tun. Wollte ich das? Schätzte ich sie richtig ein? Und ihren Freund? Es war jedenfalls eine einmalige Gelegenheit, eine Nacht in einem fast verlassenen Dorf zu übernachten.
Am Ende kniff ich, denn als mir ihr Freund das Zimmer zeigen wollte, ging es zuerst zwischen zwei entstehenden Häusern hindurch in einen langen Gang. Dann sprangen plötzlich zwei Hunde an mir hoch, ich konnte meine Hand vor Augen nicht sehen und das wurde auch im Haus nicht besser. Als wir eine kleine Treppe hinaufstiegen in das obere Stockwerk und ich fast nur schwarz vor Augen sah, brach ich ab. Was tue ich hier bloß? Und warum? Vertraue ich den Menschen hier oder eher nicht? Und wie egal war mir Kälte und Umgebung? Gab es hier überhaupt eine Heizung und Licht? Ich würde mir das Genick brechen wenn ich nachts mal aufs Klo müsste. Nein. So spannend ich das gefunden hätte, hier zu bleiben. Ich wollte raus. Ich hätte ohnehin kein Auge zugemacht.
Sicherlich hat das auf den jungen Mann recht unfreundlich gewirkt.
„Was und du willst echt lieber Kohle für ein Hotel ausgeben?“
„Also uhm ja. Äh…sorry, aber…“
Wir stiegen die schmalen Stufen im stockfinsteren Haus wieder hinab. Die Hunde sprangen um uns rum. Es ging zurück durch den engen Gang und dann standen wir wieder auf der leeren Straße im leeren Dorf. Ich entschuldigte mich und stieg schnell ins Auto. Die Kneipe war noch immer gut gefüllt, nur der Porsche war weg. Am nächsten Morgen würde ich wieder kommen. Ich hatte mich mit Sabine zum Kaffee in ihrem Haus verabredet um endlich mehr über das Geisterdorf Doel zu erfahren. Wo ich übernachten würde, das wusste ich nicht…
Vierzig Augenpaare – ziemlich volle Kneipe! Ich mag die Beschreibung des Moments. Und ich mag es auch, dass ich nicht die einzige bin, die sich nach einem spontanen „Ja!“ doch wieder aus der Affäre ziehen möchte. Jetzt bin ich neugierig auf den Kaffee bei Sabine.
@Jutta – Danke! Belgisches Bier war lecker… 😉
Gruselig irgendwie. Und kaum zu glauben das es so ein Dorf mitten in Europa bzw. sogar Belgien gibt. Rumänien oder Bulgarien, ok. Aber Belgien? Stell mir gerade vor das da lauter Homer Simpsons wohnten ;). Und so nett das Übernachtungsangebot war…dafür wär ich glaub ich auch zu schissig gewesen. LG, Nadine
@Planet Hibbel – Hab mich ja schon geärgert. Wäre mir allerdings eher wie ein Sensationstourist vorgekommen in dem Fall. Ne, das war schon gut so… Tolle Streetart in Brüssel übrigens! <3
Wenn du noch näher an ein AKW rankommen willst, dann empfehle ich dir eine Wanderung in BaWü am Neckar entlang.. 😉
http://www.zeit.de/2011/40/AKW-Wanderweg
@Marco – 😀 Haha. Nur, wenn es dort auch so ein Dorf gibt. Oder eine Mühle. Oder beides. Danke für den Tipp!
[…] Geisterdorf Doel /1 und Geisterdorf Doel/2 […]
[…] Ein Abend im Geisterdorf am Atomkraftwerk […]
Die Firma HEITKAMP aus Wanne-Eikel bei der ich beschäftigt war, hat die beiden Kühltürme gebaut. Wir hatten unser Camp etwas ausserhalb von Doel, bei einen Bauernhof. Im Dorf gab es einen kleinen Laden, der alles hatte, was man zum Leben brauchte. In der Kneipe von Chacline und Robere gab es Stella Billiard und Fernshen. An der Decke hingen lauter Bierkrüge von überall her. Ich brachte auch einen von der Brauerei Wolf aus meinen Heimatort mit. Die Toiletten waren gewöhnungbedürftigt für deutsche Verhältnisse, ein Loch und zwei Fußabdrücke, man muße gut schauen um das Ziel treffen. Pinkel ging. Es war eine schöne Zeit, die Leute waren freundlich und gesellig und aufgeschlossen. Doel war eine schöne Zeit, ein Stück Leben von mir und meinen Arbeitskolegen. trotz der immer langen Anreise. /560 km).
Ach Mensch, wow. Vielen Dank fürs Teilen deiner Geschichte! Ja, das glaube ich dass das sich einbrennt. Es ist irgendwie etwas besonderes vor allem natürlich wenn man nicht nur als ‚Tourist‘ vorbeikommt sondern direkt involviert ist/war…